GKFG Gesellschaft für Kinder- und Frauenrechte gegen Gewalt gUG
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Mittwoch, 8. April 2020
Aktuell thematisieren etliche Fachverbände und Beratungsstellen die Zunahme von Gewalt gegen Frauen und Kinder aufgrund der beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Krise. Vier Fragen hierzu an die Geschäftsführung der Wiesbadener Gesellschaft für Kinder- und Frauenrechte gegen Gewalt.
WH: Frau Prof. Dr. Schulze, gibt es einen Zusammenhang zwischen der Corona-Krise und der aktuellen Zunahme von Gewalt gegen Kinder und Frauen? Und wenn ja, wo sehen Sie die Gründe hierfür?
Kurz gesagt: Ja, es gibt einen Zusammenhang, der jedoch etwas komplexer ist, als das Einfache ja annehmen lässt. Zunächst einmal sind die Corona-Krise und die aktuellen Maßnahmen dagegen nicht ursächlich für die häusliche Gewalt. Ohne Covid-19 wurden 2018 in Deutschland allein 114.393 Frauen von Männern körperlich verletzt, 122 Frauen wurden durch Männer getötet. Wie die Statistik zeigt, stellt auch heute noch, fast 40 Jahre, nachdem das erste Frauenhaus in Deutschland seine Arbeit aufnahm, häusliche Gewalt ein massives gesellschaftspolitisches und nicht nur ein familiales bzw. privates Problem dar. Die aktuelle Berichterstattung der Presse weist auf eine befürchtete Zunahme an Gewalt gegen Frauen und Kinder aufgrund gesundheitspräventiver Maßnahmen im Rahmen von Covid-19 hin. Zahlreiche Hinweise auf den Mangel an Möglichkeiten adäquater Hilfeleistungen für Frauen werden publiziert. Kinder sind nun noch mehr familialer Gewalt ausgesetzt und befinden sich in noch größerer intrafamilialer Abhängigkeit als sonst.
Als Gründe von Gewalt werden Stress, häusliche Enge, finanzielle Sorgen durch Arbeitsplatzverlust, Überlastung durch Home-Office bei gleichzeitiger Kinderversorgung ausgeführt. Dies suggeriert, dass Gewalt eine logische Konsequenz nachvollziehbarer Belastungen sei. Damit werden die Ursachen von Gewalt verdeckt und in einem Duktus des menschlich Verständlichen legitimiert. Gewalt an Frauen ist aber immer geschlechtsspezifische Gewalt. Die Ursachen dieser Gewalt liegen in der patriarchalen Ordnung unserer Gesellschaft. Trotz rechtlicher Gleichstellung bestehen in unserer Gesellschaft Vorstellungen von „geschlechtstypischen“ Eigenschaften fort. Die weitgehende höhere Bewertung der männlichen Geschlechterstereotypen – wie Stärke, Rationalität – gegenüber den weiblichen – wie Schwäche, Emotionalität – zementiert die Dominanz des Mannes und setzt die Geschlechterungleichheit fort.
Natürlich gilt es in Zeiten von Covid-19 Frauen und Kinder in akuten Gefahrensituationen zu sehen, dabei ist die Familie, der – oft verkannte und zahlenmäßig belegte – gefährlichste Ort für Gewalterfahrungen für Frauen und Kinder. Es geht aber auch darum, Frauen als Opfer häuslicher Gewalt als „Schutz-Fall“ grundsätzlich nicht (allzu) selbstverständlich hinzunehmen. Gewalt gegen Frauen ist als Menschenrechtsverletzung zu definieren. Dass Menschrechtsverletzungen wie Gewalt an Frauen und auch gegen Kinder aktuell Aufmerksamkeit erfahren, ist dringend erforderlich, aber dass das Corona-Virus durch die Maßnahmen im Sozialleben der Anlass für diese Gewalt sein soll, halte ich für einen eher zudeckenden Diskurs! Denn auch nach Covid-19 ist die häusliche Gewalt nicht vorbei!
WH: Herr Kroeger, Sie sind seit Jahren beruflich an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis zu der Thematik tätig. Wo sehen Sie aktuell die Herausforderungen, insbesondere für die Praxis?
Auch wenn aktuell in Medien über die Zunahme der Gewalt an Frauen und Kindern in Zeiten von Covid und dadurch insgesamt mehr über das Thema berichtet wird, so ist die gesellschaftliche Wahrnehmung der Problematik, der Ursachen und gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen nach wie vor gering. Insbesondere die Hauptursache dieser Gewalt, die traditionellen Rollenbilder, die sozialen Geschlechter, die wir als Gesellschaft nach wie vor vermitteln, werden zu selten angesprochen und noch seltener reflektiert bzw. dekonstruiert. Trotz vieler Veränderungen ist das Patriarchale immer noch tief verwurzelt.
In der Praxis bedeutet es, sich dem zu stellen, es wo möglich anzusprechen und zur Reflektion anzuregen, als Einzelperson und als Gesellschaft. Wirkliche Gleichstellung aller Geschlechter wird nicht nur die Gewalt an Frauen signifikant reduzieren, sondern auch in vielen weiteren Bereichen positive Veränderungen für alle Menschen bewirken. Die Erkenntnisse der Praxis, z.B. in Frauenhäusern, und natürlich die der Wissenschaft müssen den Weg in die Präventionsarbeit finden. Diese, ebenso wie Beratungsstellen und weitere Unterstützungsangebote für Betroffene, müssen besser ausgestattet werden. Wir als GKFG müssen und werden uns stärker vernetzen. Doch dies alles ist auch über die Maßnahmen in Covid-Zeiten hinaus wichtig. Zudem ist es an uns allen, gerade jetzt aktiv aufmerksam auf unsere Umgebung zu achten. Höre ich Schreie oder sogar Schläge? Gewalt ist keine Privatsache, und Schweigen ist keine Lösung. Wir können die Polizei anrufen oder z.B. klingeln und um Klopapier, Milch oder Mehl bitten. Kennen wir jemand, die Gewalt erfährt, dann können wir mit Anrufen zeigen: „Du bist nicht allein.“ Jeder und jede kann das Schweigen brechen und sich gegen Gewalt stark machen und an der Prävention mitwirken. Es ist immer besser etwas zu tun, als nichts zu tun.
WH: Frau Fiebig, das Präventionsprojekt für Kinder „MamMut – Mitmachen macht Mut. Gemeinsam gegen Gewalt“ ist eines der Haupttätigkeitsfelder der GKFG. Sie kennen das Projekt bestens durch Ihre Erfahrungen mit der Umsetzung an Schulen. Was kann das Projekt aktuell und nach der Corona-Krise bewirken?
Leider können wir aufgrund der aktuellen Lage das Präventionsprojekt „MamMut“ in Schulen nicht umsetzen. Wir starten aber wieder mit den Umsetzungen, wenn sich die Situation in den Schulen entspannt hat.
Nun zu Ihrer Frage: Was kann „MamMut“ bewirken? „MamMut“ will als Präventionsprojekt das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen, Mädchen und Jungen verringern, denn wir wissen, dass trotz unterschiedlicher Initiativen noch immer viele Frauen und Kinder von Gewalt betroffen sind. Das Projekt „MamMut“ fördert bei Kindern nicht nur ein Bewusstsein über geschlechtsspezifische und intergenerationale Ungerechtigkeit; vielmehr werden Verhaltensweisen und Haltungen thematisiert, welche die Gleichberechtigung aller Menschen als leitendes Handlungsprinzip in den Mittelpunkt stellen. So ist eines der zentralen Ziele von „MamMut“ die Stärkung des Selbstbewusstseins, damit Kinder zum einen verinnerlichen, dass ihnen (als Schatz) kein Schaden zugefügt werden darf. Und zum anderen soll die Stärkung des Selbstbewusstseins dazu führen, dass Kinder sich in Gewaltsituationen Hilfe suchen bzw. sich selbst auch als handlungsmächtig erleben können. Nur kurz, weil es oft nicht in unserem Bewusstsein ist, möchte ich hier ausdrücklich auf den Artikel 19 der UN-Kinderrechtskonvention hinzuweisen, wo ausdrücklich der Schutz von Kindern vor jeder Form von Gewaltanwendung verankert ist.
Weiterhin ermöglicht „MamMut“, traditionelle Geschlechterrollen schon im Elementarbereich mit Mädchen und Jungen durch einen dialogisch-partizipativen Lernparcours zu dekonstruieren, also über die verinnerlichten Bilder von Männern und Frauen/Frauen und Mädchen zu sprechen – und somit hoffentlich künftig die Gewaltspirale zu durchbrechen und ein gleichberechtigtes Miteinander in den Geschlechter- und Generationsbeziehungen zu erreichen. Damit folgen das Präventionsprojekt „MamMut“ und die GKFG den rechtlich verbindlichen Vereinbarungen der Istanbul-Konvention. Diese verpflichtet alle Mitgliedsstaaten, so auch Deutschland, erforderliche Maßnahmen gegen geschlechterrollenkonstruierte Verhaltensweisen von Männern und Frauen zu ergreifen, die auf Vorurteilen, Stereotypen, Bräuchen und Traditionen basieren.
WH: Frau Prof. Dr. Schulze, wo können Betroffene Unterstützung erhalten?
Hier sind zunächst die Beratungsstellen für Familien, Frauen und Kinder in Wiesbaden zu erwähnen, auf die die Landeshauptstadt Wiesbaden aktuell im Rahmen einer Pressemeldung hingewiesen hat. Gute Anregungen zum Umgang mit der aktuellen Situation für Familien, insbesondere für Kinder, hat z.B. der Deutsche Kinderschutzbund (Bundesverband) auf seiner Homepage aufgelistet; sehr empfehlenswert, weil hier konkret Kinder, Jugendliche und deren Familien mit Unterstützungsmöglichkeiten angesprochen werden.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Prof. Dr. Walid Hafezi, Wiesbaden.